Nach der Islam-Debatte ist vor der Islam-Debatte
Zürich, 23. Juni 2021
Im Anschluss an die kürzlich erfolgte Überweisung eines Postulats der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats (SIK-S), in der ein Bericht des Bundesrats zu einem Bewilligungsverfahren und einem öffentlichen Register für Imame sowie einem Auslandfinanzierungsverbot für Moscheen angefordert wird, folgt nun ein Positionspapier der SVP Schweiz, mit dem das geltende schweizerische Religionsverfassungsrecht weiter unterminiert werden soll. Als Vertreterin der islamischen Organisationen im Kanton Zürich, nimmt die VIOZ hiermit Stellung zu diesen Entwicklungen.
Gemäss Art. 72 BV fällt die Regelung des Verhältnisses zwischen Religion und Staat unter die kantonale Zuständigkeit. Nun fordert die SVP Schweiz, nach dem Minarett- und Gesichtsverhüllungsverbot, im Widerspruch zur schweizerischen Bundesverfassung neu die Einführung eines spezifischen «Islamgesetzes nach österreichischem Vorbild» auf Bundesebene. Inhaltliche Ideen umfassen dabei ein Verbot ausländischer Imame und SeelsorgerInnen, ein Kopftuchverbot für Minderjährige und Angestellte der Bundesverwaltung mit Öffentlichkeitskontakt, einschränkende Sonderregelungen in Bezug auf Finanz- und Personalfragen muslimischer Organisationen usw. Wie bereits in früheren SVP-Verlautbarungen, werden auch im besagten SVP-Positionspapier «Islam», «Islamismus» und «politischer Islam» miteinander vermischt, ohne dass wirklich klar wird, was mit diesen Begriffen gemeint ist. Was der SVP und Co. nicht genehm ist, erhält den Stempel «Islamismus» oder «politischer Islam». Damit soll eine, wie auch immer geartete, «islamische Gefahr» suggeriert werden. Ein Widerspruch in sich ist aber die fadenscheinige Anerkennung der SVP, dass sich «die Mehrzahl der hier lebenden Muslime an die geltenden Gesetze hält und viele von ihnen einen wertvollen Beitrag zum Wohlergehen unseres Landes leisten» (Musliminnen bleiben dabei unerwähnt). Darauf folgt eine Darstellung muslimischer Migranten, die als «Schlusslichter der Integration» unter anderem geprägt sind von fehlenden Sprachkenntnissen, unzureichender Bildung, sozialer Segregation sowie Gewalttätigkeit gegen Frauen, Juden oder Homosexuelle. Damit trägt das Positionspapier der SVP zum antimuslimischen Rassismus bei, durch welchen Musliminnen und Muslime als Individuen zur Zielscheibe am Arbeitsplatz, in der Schule und im gesellschaftlichen Alltag werden. Besonders stossend an ihrem neuen Positionspapier ist ebenfalls, dass sich gerade die SVP als Retterin muslimischer Frauen und Mädchen aufspielt und ihnen ungefragt ihre Handlungs- und Deutungshoheit in Bezug auf ihr Leben und ihre Religionspraxis abspricht.
Wieder einmal fragen wir uns als Schweizer und Zürcher Musliminnen und Muslime bei den Ausführungen im neuen SVP-Islampapier, wer sich hier auf der gemeinsamen Grundlage des demokratischen und liberalen Rechtsstaates bewegt und wer diese Grundlage spezifisch in Bezug auf die kleine, bereits marginalisierte, muslimische Minderheit in der Schweiz substanziell in eine andere Richtung transformieren möchte.
Besonders interessant aus VIOZ-Sicht ist die zweifelhafte Ehre, als Dachverband der Kantonalzürcher Musliminnen und Muslime namentlich im neuen Islampapier der SVP Schweiz Erwähnung zu finden. Aufgrund der Kritik der VIOZ am mittelalterlichen Kleidergesetz der SVP (sprich dem sog. «Burkaverbot»), welches im Kanton Zürich mit rund 55% der Stimmen abgelehnt wurde, werden ihr «erzkonservative und integrationsverhindernde Ansichten und Praktiken» unterstellt. Offenbar ist somit die Mehrheit der Stimmbevölkerung im Kanton Zürich gemäss der Schweizer SVP «erzkonservativ und integrationsverhindernd». Eigentlich ist auf eine solch «absurde Aussage […] jeder Kommentar überflüssig», um das Islampapier der SVP direkt zu zitieren. Dennoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich die VIOZ, ihre Mitgliedsorganisationen und ihre engagierten Ehrenamtlichen seit Jahrzehnten für die Integration von Musliminnen und Muslimen sowie den gesamtgesellschaftlichen Dialog einsetzen. Niederschlag findet dies, um nur einige der VIOZ-Projekte zu nennen, in der Grundsatzerklärung aus dem Jahr 2005, in der sich die VIOZ und ihre Mitgliedsorganisationen unter anderem zur Demokratie, dem Rechtsstaat, den Menschenrechten, dem Frieden der Integration und dem interreligiösen Dialog bekennen; des Weiteren im preisgekrönten interreligiösen Engagement des VIOZ-Geschäftsführers Muris Begovic; in der Arbeit der VIOZ-VertreterInnen für den Interreligiösen Runden Tisch des Kantons Zürich, das Zürcher Forum der Religionen und die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft Schweiz; im täglichen Einsatz der universitär zertifizierten und staatlich überprüften muslimischen Seelsorgerinnen und Seelsorger in öffentlichen Institutionen im Kanton Zürich; in der Beteiligung der VIOZ am ersten Weiterbildungslehrgang für Imame und muslimische Betreuungspersonen in der Schweiz und vielem mehr. Diesen Weg des Dialogs, der Integration und des Rechts an der gesellschaftlichen Teilhabe, an dem die VIOZ und ihre Mitgliedsorganisationen mit Überzeugung festhalten, wird auch das neue Islampapier der SVP Schweiz nicht verhindern.
Es ist eine Tatsache, dass in der Schweiz lebende Musliminnen und Muslime religiöse Bedürfnisse haben. In diesem Sinne versammeln sie sich in Gemeinschaften, die sich im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung organisieren. Das Ziel der VIOZ ist die weitere Professionalisierung und strukturelle Stärkung muslimischer Organisationen, damit jedes Individuum seine und ihre Religion im Kontext der schweizerischen Gesellschaft leben kann. In Anerkennung der ur-schweizerischen Werte der gesellschaftlichen Integration, des Dialogs und des Konsenses, auf denen unsere eidgenössische Willensnation beruht, sollte eine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung und Teilhabemöglichkeit muslimischer Gemeinschaften in der Schweiz erfolgen. Je länger, je mehr sind die rechtliche Ungleichbehandlung von Schweizer Musliminnen und Muslimen sowie der antimuslimische politische und mediale Diskurs in der Schweiz nicht haltbar. Die problematischsten Verhältnisse zu muslimischen Minderheiten in Europa liegen gerade in den Staaten vor, die eine ausschlussorientierte Politik verfolgen, wie sie die SVP in ihrem neuen Papier fordert.
Im Widerspruch zur guten schweizerischen Art, wird die VIOZ namentlich im Positionspapier der SVP genannt, ohne dass bisher jemals Kontakte stattgefunden haben. Wieder einmal wird versucht, die VIOZ in eine bestimmte Ecke zu stellen. Erneut wird Symbolpolitik betrieben, indem sog. «Lösungen» aus dem Ausland importiert werden sollen. Anstatt nur über Musliminnen und Muslime zu sprechen und über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen zu treffen, fordern wir einen echten Dialog auf Augenhöhe.