Es sind nicht mehr viele Tage bis zur Abstimmung über die sogenannte „Burka-Initiative“. Auch wenn man den Tag nicht wie Weihnachten, Sukkot oder Bayram erwartet und sich nicht entsprechend darauf freuen kann, ist es fast unmöglich nicht zu wissen, dass der Tag der Abstimmung über das Verhüllungsverbot näher rückt, weil es tatsächlich Parallelen gibt. Selbstverständlich ist damit kein religiöser Vergleich gemeint. An Weihnachten leuchtet alles. Laternen, Balkone und Läden sind mit Licht geschmückt. Wir alle spüren eine sinnliche Atmosphäre, unabhängig davon ob und in welcher Form wir das Weihnachtsfest begehen. Eine Atmosphäre haben tatsächliche gewisse Befürworter der Initiative geschaffen. Nur haben sie es geschafft, die Laternen anstatt mit Liebe und Licht, mit Ausgrenzung und Hass zu „schmücken“.
Bis zu einem gewissen Grad kann ich nachvollziehen, dass dies das Resultat einer politischen Kampagne ist. Dass jedoch Journalisten und Medienhäuser, die immer und immer wieder ihre Neutralität betonen, diese politischen Vorhaben dermassen voreingenommen unterstützen, ist nicht nachvollziehbar. So zum Beispiel die NZZ, die am 1. März 2021 den Artikel von Lucien Scherrer unter dem Titel „Die Extremisten-Versteher – wie Medien islamistische Denkmuster verbreiten“ veröffentlicht hat.
Mein hier vorliegender Beitrag wird wohl nie die Gelegenheit bekommen, im gleichen Umfang in derselben Zeitung abgedruckt zu werden. Oder doch? Man kann sich überraschen lassen. Die Behauptungen in Lucien Scherrers Text gehören jedenfalls offenbar zur Meinungs- und Äusserungsfreiheit und dürfen so veröffentlicht werden.
Kritiker kritisieren, darf man das?
Der genannte NZZ-Artikel ist nicht der erste, in dem Amira Hafner Al-Jabaji wegen ihrer Äusserung kritisiert wird, weil sie es „gewagt“ hat Saïda Keller-Messahli zu kritisieren. Oder wie im Beitrag festgehalten „ihrer Wut auf die Islamkritikerin Saïda Keller-Messahli und ihren Arbeitgeber SRF freien Lauf liess.“ Erstaunlich ist dabei, dass Frau Keller-Messahli in der Diskussion lediglich als „sehr resolut auftritt“.
Die VIOZ führt einen aktuellen Veranstaltungskalender und weist regelmässig auf diverse Events zu den Themen Islam, Religion, Integration etc. hin. Natürlich auch auf solche, bei denen Frau Hafner Al-Jabaji auftritt oder moderiert. Die wissenschaftliche und professionelle Kompetenz der erfahrenen SRF-Journalistin Amira Hafner Al-Jabaji wird jedoch in Frage gestellt, weil auf der Webseite und dem Eventkalender der VIOZ die eine oder andere Veranstaltung mit ihr zu finden sind. Der Umstand, dass Hinweise auf externe Veranstaltungen im VIOZ-Kalender eigenständig erfolgen, findet mit keinem Wort Erwähnung. Da Herr Scherrer offenbar sehr gerne investigativ arbeitet, hätte er dies mit einer simplen Anfrage bei der VIOZ in Erfahrung bringen können. Natürlich, wenn ein wirkliches Interesse nach Klärung bestehen würde. Der Eindruck ist, dass eher Spekulationen und diffuse Assoziationsketten mit dem Beitrag anvisiert waren.
Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, ob ich als Geschäftsleiter eines muslimischen Dachverbandes die Freiheit haben darf, auf Veranstaltungen zu einschlägigen und für Musliminnen und Muslime relevanten Themen hinzuweisen, oder doch eher nicht? Muss ich künftig bei bestimmten Instanzen nachfragen was auf unserer eigenen Webseite veröffentlicht werden darf? Es wäre auch interessant zu wissen, ob man eine Kritikerin oder einen Kritiker kritisieren darf, wie das Amira Hafner Al Jabaji gemacht hat? Oder muss ich dann damit rechnen, auch zu einer Zielscheibe zu werden, die als Mensch in ihren Kompetenzen vollständig herabgesetzt und entwertet wird?
Auch die Bezeichnung „Islamkritikerin“ ist in jedem Zusammenhang sehr fragwürdig. Menschen machen eine Religion aus. Gerne kann man „Muslimkritiker“ oder „Muslimkritikerin“ sein. Der Islam ist eine Weltreligion, zu der sich ein Viertel der gesamten Menschheit bekennt. Er blickt auf eine lange und sehr reichhaltige religiöse, theologische, philosophische und künstlerische Tradition zurück. Der Feststellung, dass es innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und innerhalb dieser jahrhundertelangen Entwicklung bestimmte, auch höchst problematische Bewegungen gab und immer noch gibt, die zu kritisieren sind, kann sowohl ich, wie auch jede andere Muslimin und Muslim von ganzem Herzen zustimmen. Aber deshalb können wir nicht gleich als Islamkritiker bezeichnet werden.
Organisieren oder nicht organisieren, das ist hier die Frage
Bei der Abstimmung über die Anti-Minarett-Initiative wurde den Muslimen ständig der Vorwurf gemacht, sie seien nicht gut organisiert. Sie müssten sich vermehrt in der Öffentlichkeit zeigen, Stellung zu Geschehnissen nehmen und sich im öffentlichen Leben engagieren. Muslimische Gemeinschaften sind diesem Aufruf gefolgt und haben es geschafft bis heute eine gute Struktur aufzubauen, unter den gegebenen gesellschaftlichen und strukturellen Umständen. Schon kommen Kritiken von allen Seiten. Wenn Amira Hafner Al-Jabaji in ihrem Blogbeitrag an die muslimischen Verbände erinnert, wird dies als etwas Negatives dargestellt und sie als Sprachrohr für islamische Vereine betitelt. So stellt sich doch fundamental die Frage, ob wir Musliminnen und Muslime nun Strukturen schaffen sollen? Oder sollen wir doch lieber zum ursprünglichen, chaotischen Zustand zurückkehren? Man kommt nicht um den Eindruck herum, dass dies offenbar für einige mediale und politische Akteure erwünscht wäre.
Die VIOZ gehört nicht zur Muslimbruderschaft
Im Jahr 2013 wurde in einem Artikel der regimenahen ägyptischen Zeitung al-Watan[1] die Behauptung in die Welt gesetzt, dass die Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich (VIOZ) der Muslimbruderschaft angehört.[2] Ein und derselbe Artikel wurde als Kopie auf diversen Webseiten, unter anderem auch auf derjenigen der „Arab Reporters for Investigative Journalism“ in zumeist wackeligen englischen Übersetzungen aufgeschaltet.[3] Herr Scherrer verweist denn auch in seinem NZZ-Artikel auf den entsprechenden Beitrag bei ARIJ.
Beim Originalartikel in al-Watan und der englischen Kopie der „Arab Reporters for Investigative Journalism“ handelt es sich um eine zusammenhanglose und grösstenteils unkommentierte Aufzählung diverser Vereine, Stiftungen, Unternehmen und Einzelpersonen. So soll ein Netzwerk unter der Kontrolle der Muslimbruderschaft suggeriert werden, wie auch eingangs im entsprechenden Artikel festgehalten wird: „Al-Watan hat acht gemeinnützige Organisationen ausfindig gemacht, die meisten davon in der Schweiz, deren Vorstände von der Muslimbruderschaft kontrolliert werden und die Beiträge und Spenden von ihren Mitgliedern sammeln, um die Organisation (d.h. Muslimbruderschaft) zu finanzieren“. Einen konkreten Beleg dafür bleiben die investigativen Journalisten jedoch der Öffentlichkeit schuldig. Schlussendlich halten sie selbst im gleichen Artikel fest: „Während alle Dokumente, die von al-Watan erhalten wurden, mehrere Fäden aufdecken, welche die Vereinigungen, Unternehmen und individuellen Mitglieder der weltweiten Muslimbruderschaft verbinden, verweisen sie auf keinerlei Überweisungen zwischen diesen Einheiten. Weitere Recherchen haben keine zusätzlichen Informationen aufgedeckt. Solche Überweisungen, falls sie stattfinden, werden nicht angezeigt durch die Unternehmen und Banken. Des Weiteren haben Sicherheitsdienste des früheren Regimes solche Transaktionen ebenfalls nicht aufgedeckt.“ Eine eingehendere Lektüre des Artikels deutet darauf hin, dass die Verfasser lediglich völlig unproblematische und öffentlich sichtbare Einträge aus dem schweizerischen Handelsregister zusammengetragen haben. Als Verein gemäss ZGB 60 ff. ist die VIOZ zu einer regulären Buchhaltung und Rechnungslegung verpflichtet. In diesem Sinne wäre es ein Leichtes unklare und möglicherweise unlautere Finanzströme aufzudecken, oder auch personelle Unstimmigkeiten in Bezug auf die Vorstandszusammensetzung. Auf offizielle Rückfrage seitens der VIOZ hat die betreffende Zeitung al-Watan bis heute keine Belege für einen, auch nur ansatzweisen Zusammenhang zwischen der VIOZ und der Muslimbruderschaft geliefert.
Die Realität ist, dass die VIOZ sowohl hinsichtlich ihrer Mitgliedsvereinigungen, wie auch im Vorstand, seit der Gründung im Jahr 1996 die breite religiöse, kulturelle, ethnische und sprachliche Diversität der Zürcher Musliminnen und Muslime abbildet. Die VIOZ vertritt eine Mehrzahl der muslimischen Organisationen im Kanton Zürich. Seit Jahrzehnten engagiert sich die VIOZ für die gesamtgesellschaftliche Teilhabe der gegen 100’000 kantonalzürcher Musliminnen und Muslime. Mit der Grundsatzerklärung von 2005 haben sich die VIOZ und ihre Mitgliedsorganisationen bedingungslos und mit tiefster Überzeugung für die Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frieden, Gleichberechtigung, Dialog etc. bekannt und bekräftigen dies bis heute auch mit ihrem unermüdlichen, meist ehrenamtlichen Einsatz für diese Werte.[4] Die VIOZ ist weder von der Muslimbruderschaft noch sonst einer ausländischen Organisation unterwandert und gehört einer solchen Organisation auch in keinster Weise an.
Diverse öffentliche Exponentinnen und Exponenten wie z. B. Saïda Keller-Messahli und die CVP-Nationalrätin Marianne Binder-Keller halten unvermindert an solchen unbelegten Unterstellungen in Bezug auf die VIOZ fest und platzieren sie in Form von öffentlichen Interviews und Interpellationen im Nationalrat. Diverse Vorstandsmitglieder der VIOZ engagieren sich hingegen persönlich unermüdlich für das interreligiöse Zusammenleben in Zürich und in der Schweiz. Unter anderem habe ich selbst als Geschäftsleiter der VIOZ und als Imam zusammen mit dem ICZ-Rabbiner Noam Hertig den Dialogpreis der Schweizer Juden bekommen. Dies ist Beweis genug, dass weder ich, noch sonst eine Person, die sich für die VIOZ engagiert, jemandem etwas vorspielen muss. Unsere Werte und Prinzipien entsprechen denjenigen der liberalen und demokratischen Schweiz.
Der Bereits erwähnte Umstand, dass Herr Scherrer es nicht einmal für nötig erachtete mit der VIOZ Kontakt aufzunehmen, verweist auf den grundlegen Mangel an Ethik, Fairness und Ausgewogenheit in der Berichterstattung. Stattdessen entschied sich Herr Scherrer, abseits jeglicher journalistischer Standards für die Reproduktion zusammenhangloser und unbelegter Behauptungen sowie eine Zementierung mittlerweile klassischer antimuslimischer Ressentiments.
Ich bin nicht! Oder, ich bin?
Seit nun 20 Jahren muss ich als Muslim erklären, was ich alles nicht bin. Dieser permanente Rechtfertigungsdruck, unter dem völlig normale Musliminnen und Muslime stehen, ist extrem mühsam und kräftezehrend. Und dies trotz all dem was, wir für die Gesellschaft geleistet haben. Es ist für mich erschreckend und traurig, dass ich als Schweizer auch schon über die Möglichkeit einer Auswanderung nachgedacht habe. Diese Gedanken sind wohl vorläufig nur ein Resultat der ermüdenden Kampagne zur Burka-Initiative. Bestimmt sind sie aber auch ein Wunsch vieler Befürworter der Initiative. Solche Wünsche sind in den Kommentaren der entsprechenden Artikel der letzten Wochen sehr leicht zu finden.
Ein arabisches Sprichwort besagt: „Es bleibt was auf dem Papier geschrieben steht. Das, was man sich merkt, das vergeht.“ So soll für immer und ewig, aber zum letzten Mal geschrieben bleiben was ich nicht bin. Ich bin kein Terrorist. Ich bin kein Islamist. Ich gehöre keiner Ideologie oder Bewegung an.
Zürich, 3. März 2021
Muris Begovic
VIOZ Geschäftsleiter
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[1] Zur Regimenähe von al-Watan siehe z. B. Human Rights Watch oder The Guardian:
https://www.hrw.org/news/2020/10/22/egypt-49-executions-10-days
[2] Der Artikel kann im Original unter dem folgenden Link nachgelesen werden:
https://www.elwatannews.com/news/details/156384
[3] https://en.arij.net/investigation/the-muslim-brotherhoods-sources-of-funding/
[4] https://vioz.ch/wp-content/uploads/2014/02/VIOZ-Grundsatzerkl%C3%A4rung_050327a.pdf