Ein Kommentar zur Gesellschaftsdebatte und Muslimfeindlichkeit
Konsterniert nimmt die VIOZ den Forderungskatalog in Bezug auf «radikalen Islam» zur Kenntnis, der an der Delegiertenversammlung der SVP vom 28.10.2017 von 315 Delegierten beschlossen wurde. Die weitreichenden Forderungen der wählerstärksten Partei unseres Landes würden im hypothetischen Falle einer Akzeptanz durch die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine grundlegende Änderung der bestehenden Rechts- und Werteordnung der Schweiz bedingen.
Die Wertedebatte hat es bis dato tatsächlich geschafft, Werte zu fordern, ohne diese auch nur ansatzweise zu bestimmen. Zusätzlich begeht man den fatalen Fehler, innere Werte verordnen zu wollen und diese in Regulativen zu definieren. Die Causa Tell zeigt beispielhaft, wie erzwungene Begrüssungsrituale enden können und steht zudem für einen freiheitlichen Patriotismus. Der Massstab des Zusammenlebens bildet daher nicht die gleiche Überzeugung, sondern die Einhaltung des Rechts. Das Erzwingen von Werten ist daher ein Akt der Gewalt gegen die freiheitliche Ordnung und Selbstbestimmung einer jeden Bürgerin, eines jeden Bürgers.
Fundamentalste Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, die essentiell für die Funktion unseres liberalen und (basis-)demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaates sind, wie z. B. die Gleichheit vor dem Gesetz, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre, die Wirtschaftsfreiheit usw. würden durch diese Forderungen für muslimische Bürgerinnen und Bürger massiv eingeschränkt werden. Dies käme einer Rückkehr in das finstere Zeitalter der Mehrklassengesellschaft gleich, mit Musliminnen und Muslimen als Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse, deren persönliche Rechte kollektiv und pauschal eingeschränkt würden.
Das Absurde an der ganzen Angelegenheit ist, dass dieser Forderungskatalog sich vorgeblich eigentlich gegen einen «radikalen Islam» richtet. Es sind jedoch nicht radikalisierte muslimische Randgruppierungen, die eine öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islams, eine Imam-Ausbildung in der Schweiz, eine professionelle Seelsorge oder Predigten auf einer Landessprache fordern. Viel eher gehen solche radikalen Gruppierungen hinsichtlich dieser Punkte Hand in Hand mit der SVP. Ihnen sind die aktuelle, grösstenteils unregulierte rechtliche Situation der muslimischen Gemeinschaften und der sehr polemisch geführte öffentliche Diskurs äusserst dienlich. Gleichzeitig profitiert die SVP von der Hysterie um einen «radikalen Islam» in der Schweiz. Leidtragende sind schlussendlich die Musliminnen und Muslime aus der Mitte der schweizerischen Gesellschaft.
Ebenso ist es störrisch kontraproduktiv sich gegen Seelsorger zu wenden, die mittlerweile in fast allen europäischen Ländern ein Schlüsselelement der Deradikalisierung sind und, wie es auch die islamischen Organisationen schweizweit tun, durch Information und Ausbildung den Schutz der Gesellschaft durch Prävention leisten. Zudem ist es schlicht nicht nachvollziehbar, wieso es gerade Muslimen nicht erlaubt sein soll, spirituelle Hilfe und Unterstützung von ihren Geistlichen zu bekommen.
Auch hier ist es offensichtlich, dass man sich nicht mit der Basis in diesem Arbeitsbereich ausgetauscht hat. Wer die Psychologischen Dienste kennt, weiss, dass diese mit den Seelsorgern zusammen arbeiten, da jedes Fachgebiet seine eigenen Grenzen hat und sie sich daher alltäglich ergänzen müssen.
Kritik, auch an Religionsgemeinschaften, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer öffentlichen Debattenkultur und soll es auch weiterhin bleiben. Forderungen nach Einschränkungen essentieller Grundrechte, pauschalisierende Polemik und Fremdenfeindlichkeit sind jedoch kein Rezept für Lösungen, sondern schaffen viel eher neue Probleme.
Wir sind gegen Gewaltextremisten und tun etwas gegen diese. Wir würden uns freuen, wenn wir in diesem Kampf statt angefeindet zu werden Unterstützung erfahren würden. Es sind nicht diese 315 SVP-Delegierten, die in ihrer Freizeit Workshops mit Jugendlichen zu diesem Thema machen. Sie leisten keinen persönlichen oder finanziellen Beitrag zur Extremismusprävention, melden radikalisierte Gefährder oder setzen sich für eine auf der Strasse zu Unrecht belästigten Muslima ein, die aufgrund von pauschalen Verunglimpfungen rechtsradikaler Hetzer oder muslimfeindlicher PseudoexpertInnen tätlich und verbal angegriffen wird.
- Wir laden die 315 Delegierten ein uns in unserer Arbeit zu unterstützen um sich auch in diesem Themengebiet endlich für die Gesellschaft zu engagieren.
- Wir laden die 315 Delegierten ein sich mit der Realität unserer Präventionsarbeit zu beschäftigen, sich mit ausgebildeten Imamen ‚deutsch und deutlich‘ zu unterhalten, den Alltag von muslimischen Seelsorgern, Psychologen und Jugendarbeitern nachzuvollziehen und mit ihrem Gastredner über oben genannte Sachverhalte auszutauschen.
- Wir laden die 315 Delegierten zudem ein, uns zu besuchen, uns auszufragen sich mit uns zu unterhalten.
- Daher appellieren wir an alle gesellschaftlich relevanten Akteure, zu einem sachlichen und konstruktiven öffentlichen Diskurs zurückzukehren.
Eine erste Gelegenheit bietet sich beispielsweise am Tag der offenen Moscheen, am zweiten Novemberwochenende.
Nähere Informationen dazu befinden sich auf unserer Webseite www.vioz.ch
Text- und Bildquelle: Basierend auf svp.ch, 28.10.2017